Einigkeit und Recht und Freizeit

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Einigkeit und Recht und Freizeit 

Von Frédéric Schwilden 

Lady Gaga und Markus Söder sind eineiige Zwillinge. Popstars und Politiker schaffen ihr Werk aus sich selbst. Sie ignorieren in ihrem Willen, zu gestalten physikalische Gesetze: Sie schaffen aus dem Nichts ein Etwas. Popstars und Politiker wollen Gestalter, Weltverbesserer, Schöpfer, letztendlich Götter werden. Sie wollen, dass wir ihnen und an sie glauben. Sie machen die Welt zu ihrer Bühne. Sie folgen ihrer Berufung, mehr sein zu wollen als die Tochter einer Sekretärin oder der Sohn eines Maurers. 

Aber niemand wird als Kanzlerin, Minister, Staatssekretärin oder Bürgermeister geboren. Deutschland ist ein Land von Spargelstechern, Ball-Debütantinnen, Geflohenen, Gelähmten, Reichen, Armen, Trinkern und Sonnenbadern, Heiratsschwindlern und Hochstaplerinnen. Die Deutschen sind nicht die Kinder von Kaisern, Päpsten oder Zarinnen. Die Deutschen sind Kaputte, Gesunde, Erfolgreiche, Gescheiterte und alle dazwischen. Die Deutschen sind die Freaks im Fantasialand der Möglichkeiten.  


Die vermeintliche Größe von Mandtatsträgern, die man sonst nur aus dem Fernsehen, von Parteitagen oder Großveranstaltungen kennt, bricht häufig in sich zusammen, wenn man sie trifft. Da sitzt einem der Vorsitzende einer Partei gegenüber, man sollte meinen, ein mächtiger, selbstsicherer Mann, und im Gespräch fühlt es sich an, als wolle er immer das Richtige sagen, das, was das Gegenüber zum Lachen bringt, was gut ankommt – wie ein Junge beim ersten Date. Am Ende sitzt da ein verletzlich unsicheres Menschenkind in einem Anzug, der altersbedingt langsam zu schmal wird, ein Menschenkind, das wie jedes andere nach Liebe schreit. Da ist die Frau mit Bundestagsmandat, die auf ein beiläufiges Kompliment für ihre 1000-Euro-Valentino-Schuhe mit Erröten reagiert und sagt: „Schreiben Sie das bloß nicht.“ Da ist der Minister, er wurde als der nächste Kanzler gehandelt, und auf dem Rücksitz der Limousine ist er einfach nur ein leerer Körper, der ermüdet in eine unsichere Zukunft lächelt. 


Die da oben werden Politiker oft genannt. Weil sie auf Bühnen stehen und Reden halten und ein bisschen mehr als der Durchschnitt verdienen. Aber wenn sie im Plenarsaal des Reichstag sind, dann sind sie die da unten. Von der Besuchertribüne und in den Fernsehübertragungen schaut man auf sie herab. Die da oben sind eigentlich das Volk. 


Politikertage sind lang. In den Sitzungswochen sind sie weit weg von ihren Familien. Sind Sie abends einsam in Berlin? Und egal ob Bundestag oder auf Kommunalebene, sie machen fast alles, um gut weg zu kommen. Mit Blumen posieren? Na klar. Und nochmal bitte die Treppe runtergehen für das Foto. Sie antworten auf die dümmsten Fragen, schütteln fast jede Hand, in der Hoffnung, Menschen wirklich zu berühren. Eine Rechtspopulistin setzt sich in Pumps aufs Sofa. 

Und trotzdem: An Infoständen und auf Veranstaltungen werden sie kritisiert, beleidigt, manchmal sogar bespuckt oder körperlich angegriffen. Die Politik kennt keine Privatsphäre und keinen Schutz. Die Menschen dort hasten von Termin zu Termin durch ein Land, das sie zum Besseren verändern wollen. 

83 Millionen Menschen leben in diesem Land, in dem ich mehr Tourist als Journalist bin. Vieles wirkt vertraut, ist mir aber doch ganz fremd. Ich schaue auf die Bewohner wie ein Anthropologe. Seit ich denken kann, frage ich mich: Wer sind die Deutschen überhaupt?



Unity and justice and leisure 

By Frédéric Schwilden 

Lady Gaga and Markus Söder are identical twins. Pop stars and politicians create their work out of themselves. In their will to create, they ignore physical laws: they create something out of nothing. Pop stars and politicians want to become designers, do-gooders, creators, ultimately gods. They want us to believe them and in them. They make the world their stage. They follow their calling to want to be more than a secretary’s daughter or a bricklayer’s son. 

But no one is born a chancellor, minister, secretary of state or mayor. Germany is a country of asparagus stealers, ball debutantes, fugitives, paralyzed people, rich people, poor people, drinkers and sunbathers, marriage swindlers and con artists. Germans are not the children of emperors, popes or czarinas. Germans are the broken, the healthy, the successful, the failed and everyone in between. Germans are the freaks in the fantasy land of possibilities.  

The supposed greatness of mandate holders, who are otherwise only known from television, party conventions or major events, often collapses when you meet them. There’s the chairman of a party sitting across from you, you’d think a powerful, self-assured man, and in conversation it feels as if he always wants to say the right thing, the thing that makes the other person laugh, the thing that goes down well – like a boy on a first date. In the end, there sits a vulnerably insecure human child in a suit that is slowly becoming too narrow due to his age, a human child that cries out for love like any other. There’s the woman with a Bundestag mandate, who responds to a casual compliment about her 1,000-euro Valentino shoes by blushing and saying, “Don’t write that.” There’s the minister, he’s been touted as the next chancellor, and in the back seat of the limousine he’s just an empty body, smiling wearily into an uncertain future. 

Those up there are often called politicians. Because they stand on stages and give speeches and earn a little more than the average. But when they are in the plenary hall of the Reichstag, they are the ones down there. From the visitors’ gallery and in the television broadcasts, people look down on them. Those up there are actually the people. 

Politicians’ days are long. During the weeks when they are in session, they are far away from their families. Are you lonely in Berlin in the evenings? And whether in the Bundestag or at the local level, they’ll do almost anything to get off easy. Pose with flowers? Sure. And walk down the stairs again for the photo, please. They answer the dumbest questions, shake almost every hand, hoping to really touch people. A right-wing populist sits down on the sofa in pumps. 

And yet: at information booths and events, they are criticized, insulted, sometimes even spat on or physically attacked. Politics knows no privacy and no protection. The people there rush from appointment to appointment through a country they want to change for the better. 

83 million people live in this country, where I am more of a tourist than a journalist. Much of it seems familiar, yet it is quite foreign to me. I look at the inhabitants like an anthropologist. For as long as I can remember, I’ve been asking myself: Who are the Germans anyway?

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